Narzissmus – Ein inflationär genutztes Schlagwort. Doch was steckt wirklich dahinter?

Veröffentlicht am 7. Oktober 2025 um 10:59
Abstraktes Bild in schwarz/weiß. Ein verzweifelter Mann.

Kaum ein psychologischer Begriff wird derzeit so häufig – und so leichtfertig – verwendet wie „Narzisst“.
In sozialen Medien ist er zum Etikett für alles geworden, was egoistisch, manipulativ oder gefühlskalt wirkt.
Doch klinischer Narzissmus ist etwas anderes. Er ist komplex, tief verwurzelt und diagnostisch klar definiert – keine bloße Charaktereigenschaft, sondern eine tiefgreifende Persönlichkeitsstörung.

1. Woher kommt der Begriff?

Der Ursprung liegt in der griechischen Mythologie: Narkissos, ein junger Mann, verliebt sich in sein eigenes Spiegelbild – unfähig, andere wahrzunehmen.
In der modernen Psychologie steht „Narzissmus“ symbolisch für übermäßige Selbstbezogenheit, ein brüchiges Selbstwertgefühl und das ständige Bedürfnis nach Bewunderung.

Doch Achtung: Ein gewisses Maß an Narzissmus ist normal und sogar gesund.
Wer Ziele verfolgt, Selbstvertrauen zeigt und stolz auf Erfolge ist, zeigt funktionalen Narzissmus – kein pathologisches Problem.
Kritisch wird es erst, wenn das Selbstbild übertrieben, instabil und abhängig von äußerer Bestätigung wird.


2. Was ist eine narzisstische Persönlichkeitsstörung (NPS)?

Die narzisstische Persönlichkeitsstörung (NPS) ist eine anerkannte psychische Störung und im DSM-5 (Diagnostisches und Statistisches Manual psychischer Störungen) klassifiziert.
Sie gehört zu den sogenannten Cluster-B-Persönlichkeitsstörungen – also den emotional instabilen, theatralischen und impulsiven Störungsbildern.

Diagnostische Hauptmerkmale (nach DSM-5):

Mindestens fünf der folgenden Merkmale müssen dauerhaft und in verschiedenen Lebensbereichen vorliegen:

  1. Übertriebenes Gefühl der eigenen Wichtigkeit („Ich bin außergewöhnlich“)

  2. Fantasien grenzenlosen Erfolgs, Macht, Schönheit oder idealer Liebe

  3. Glaube, „besonders“ und nur von „besonderen“ Menschen verstanden zu werden

  4. Bedürfnis nach übermäßiger Bewunderung

  5. Anspruchsdenken („Ich verdiene Sonderbehandlung“)

  6. Ausbeuterisches Verhalten in Beziehungen

  7. Mangel an Empathie

  8. Neid auf andere oder Überzeugung, andere seien neidisch auf einen selbst

  9. Arrogante, überhebliche Verhaltensweisen oder Haltungen

Das Entscheidende:
Diese Merkmale müssen stabil, tief verwurzelt und funktionseinschränkend sein.
Ein „Narzisstischer Moment“ im Streit oder ein egozentrischer Post auf Instagram ist noch keine Persönlichkeitsstörung.


3. Wie wird Narzissmus diagnostiziert?

Die Diagnose erfolgt durch klinische Exploration (strukturierte Interviews, z. B. SKID-II oder SCID-5-PD) und die Beurteilung des Lebenslaufs, Beziehungsmusters und Selbstbildes.
Erfahrene Psychotherapeut:innen oder Psychiater:innen beurteilen dabei:

  • emotionale Tiefe und Empathiefähigkeit,

  • Umgang mit Kritik,

  • Reaktionen auf Zurückweisung,

  • Selbstreflexionsfähigkeit,

  • sowie das Ausmaß der Beeinträchtigung im Alltag und in Beziehungen.

Oft liegt eine komorbide Problematik vor – etwa Depressionen, Suchtverhalten, Angststörungen oder eine Borderline-Komponente.


4. Narzisstische Züge vs. narzisstische Störung

Ein wichtiger Unterschied, der oft übersehen wird:
Viele Menschen zeigen narzisstische Tendenzen, ohne eine Störung zu haben.

Beispiele:

  • Jemand sucht übermäßig Bestätigung, weil er unsicher ist.

  • Eine Führungskraft stellt sich gerne in den Mittelpunkt, um Kontrolle zu behalten.

  • Ein Partner reagiert empfindlich auf Kritik, weil sein Selbstwert instabil ist.

Das ist nicht automatisch pathologisch – sondern menschlich.
Entscheidend ist, ob daraus Leid entsteht – bei der Person selbst oder ihrem Umfeld.


5. Wie erkennt man Menschen mit narzisstischen Tendenzen oder einer NPS?

Hier einige typische, aber nicht immer offensichtliche Muster:

 

VerhaltenHintergrundCharismatisch, überzeugend, anfangs charmantAnfangs werden Mitmenschen idealisiert – solange sie Bewunderung gebenSpäter abwertend, kontrollierend oder kaltWenn die Bewunderung ausbleibt, schlägt Idealisierung in Entwertung umStarkes Bedürfnis nach KontrolleKontrollverlust bedroht das fragile SelbstwertgefühlMangelnde Empathie bei gleichzeitig hoher EmpfindlichkeitEigene Gefühle stehen im Mittelpunkt, andere werden funktional gesehenKein echtes SchuldempfindenVerantwortung wird externalisiert („Die anderen sind schuld“)Perfektionsstreben & ÜberkompensationDahinter liegt häufig ein tiefsitzendes Gefühl von Unzulänglichkeit oder Scham

 

Ein typisches Muster ist der „narzisstische Kreislauf“:
Idealisierung → Entwertung → Rückzug → erneute Annäherung, sobald die Kontrolle verloren zu gehen droht.


6. Wie entsteht Narzissmus?

Ursachen liegen meist in einer frühen Verletzung des Selbstwerts.
Oft erleben Betroffene in der Kindheit:

  • Übermäßige Idealisierung oder Entwertung durch die Eltern,

  • Liebesentzug bei Versagen,

  • fehlende echte emotionale Resonanz,

  • oder eine Kindheit, in der Leistung wichtiger war als Zuneigung.

Das „falsche Selbst“ entsteht als Schutzpanzer – eine Art psychischer Überlebensmechanismus, um nicht wieder klein, schwach oder unbedeutend zu sein.


7. Kann man Narzissmus therapieren?

Ja – aber nur, wenn die Person Einsichtsfähigkeit und Leidensdruck entwickelt.
Das ist selten, da Selbstreflexion und Kritikfähigkeit genau die Bereiche sind, die gestört sind.
Therapeutisch kommen meist tiefenpsychologische oder schematherapeutische Ansätze zum Einsatz, manchmal auch kognitive Verhaltenstherapie.

Ziel ist nicht, den „Narzissmus auszutreiben“, sondern das echte Selbst hinter der Fassade zu stärken:
Empathie, emotionale Tiefe und die Fähigkeit, Bindung ohne Dominanz zu erleben.


8. Fazit: Zwischen Selbstliebe und Selbstvergötterung

Narzissmus ist kein Modewort, sondern ein ernstzunehmendes psychologisches Phänomen.
Zwischen gesunder Selbstachtung und krankhafter Selbstüberhöhung liegt ein schmaler Grat.
Nicht jeder, der selbstbewusst, fordernd oder konfliktfreudig ist, ist ein Narzisst.
Aber jeder echte Narzisst hat ein tief verunsichertes inneres Kind, das um Anerkennung kämpft – nur eben mit einer Panzerung, die andere verletzt.

Wer das versteht, erkennt:
Hinter jeder Arroganz steckt meist Angst.
Und echte Heilung beginnt dort, wo man diese Angst zu sehen wagt – statt sie zu bewundern oder zu verurteilen.


Autor:
Sascha Vierrether


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